Jürgen Teipel
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Jürgen Teipel - Unsere unbekannte Familie
Aber ich kann fliegen
Prolog
Die Tür zum Kinobalkon war zum Glück nicht abgesperrt. Ich lief zurück in mein Zimmer, knotete ein paar Laken aneinander und ging wieder zurück ins Treppenhaus. Dort brannte ganz normal Licht, aber das Licht auf dem Balkon funktionierte über den Hauptschalter hinter der Leinwand. Unten im Saal war es stockdunkel. Nur durch die Balkontür kam dieser schmale Lichtkegel herein, viel zu schwach, um irgendwas zu beleuchten. Auch mit den Laken kam ich nicht wirklich weiter. Ich merkte, dass ich sie vorne an der Brüstung zum Saal nirgends festmachen konnte. Also knotete ich noch ein paar Dinge dazu, Handtücher, alles, was ich hatte, und befestigte das Ganze an der ersten Sitzreihe. Ich konnte nur hoffen, dass es reichte, denn mein Seil verlor sich irgendwo in der Dunkelheit. Dann saß ich noch eine Weile auf der Brüstung, weil ich nicht wusste, ob das alles nicht völliger Unsinn war. Ob es nicht einen besseren Weg gab. Aber mir fiel nichts ein. Also fing ich an, mich vorsichtig hinunterzulassen. Zuerst ging es ganz gut. Ich schaffte es tatsächlich, nicht gleich runterzufallen. Das Seil hielt. Aber dann kam ich in den dunklen Bereich, dorthin, wo wirklich kein Licht mehr hinfiel. Und da gab es einen Moment: Ich hing irgendwo zwischen Decke und Boden und hatte auf einmal so ein Gefühl der Fremdheit. Was machte ich hier? Wer war ich? Wie war ich in diese Situation geraten? Das hatte doch mit dem Leben, das alle anderen Menschen führten, nichts zu tun. Ich war außen und sie innen. Ich war fremd und sie vertraut.
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Das war nun also mein neues Zuhause. Die ehemalige Männertoilette eines alten Vorstadtkinos, das gerade renoviert worden war. Aber dieser Teil nicht: die ehemalige Wohnung der Gogolins, französisch-polnischer Fabelwesen, im ersten Stock. Wobei ich mir diese Wohnung nicht vorstellen konnte. Es gab einen großen Raum, der inzwischen als Lager von der Kirchengemeinde genutzt wurde, die Eigentümerin des Gebäudes war. Es gab einen weiteren großen Raum, den Peter und ich uns vor kurzer Zeit als Tonstudio eingerichtet hatten. Das durften wir. Aber was ich eigentlich nicht durfte: im Rest der Räumlichkeiten irgendwie wohnen. Nicht, weil das Ganze zum Wohnen offensichtlich ungeeignet war. Der komische Vorraum, in dem eine Art Iglu stand, aber nicht mittendrin, sondern halb an die Wand rangebaut, ein niedriges Gemäuer, das mich an das Backhäuschen erinnerte, an dem ich früher auf dem Weg zur Schule vorbeigelaufen war. Eine alte Frau hatte dort manchmal Brote gebacken. Erst recht ungeeignet war die Damentoilette, die von diesem Vorraum abging. Sie war so dreckig, dass ich den Gedanken, sie irgendwie zu nutzen, schnell wieder aufgegeben hatte und sie mit langen, sehr langen Nägeln zunagelte. Die Tür strich ich feuerrot, mit der von der Kinorenovierung übrig gebliebenen Metallfarbe. Und völlig undenkbar war es, aus der ehemaligen Herrentoilette mit Pissrinne und zwei Toilettenkabinen mein Schlafzimmer zu machen. Aber genau das hatte ich vor. Ich hatte keine andere Wahl. Die Gogolins hatten anscheinend eine andere Wahl gehabt. Hatten die alten, uralten Kabinen, in lindgrün, einfach vor sich hin modern lassen und waren was weiß ich wo aufs Klo gegangen. Eine Dusche gab es nicht. Waschbecken auch nicht. Wie gesagt: ein Rätsel von einer ehemaligen Wohnung. Nur konnte ich die Miete in dem ehemaligen Kloster, alles ehemalig, in dem ich erst ein Jahr zuvor eingezogen war, ohne irgendwie Geld zu verdienen, ohne auch nur die geringste Aussicht auf Geld zu haben, nicht mehr bezahlen. Für jeden anderen wäre das absehbar gewesen. Für mich nicht. Ich lebe in einem Traum. In einem Traum bestehend aus Büchern und Platten. Ich brauche die restliche Welt nicht. Aber sie braucht mein Geld. Das ich nun nicht mehr habe. Und deshalb diesen Mangel an Wahlmöglichkeiten. Ich hatte im Kloster den Boden meiner Küche herausgerissen – einen fast neuen PVC-Boden, der mir gehörte, soviel ich den Vermieter verstanden hatte – und hatte mir in einem Raum außerhalb der Wohnung, ebenfalls im ersten Stock, gleich wenn man die Treppe zum Kinobalkon hochging, aber dann nicht links zum Balkon, sondern geradeaus, eine Küche eingerichtet, den Boden dort verlegt, denn der vorhandene Boden hatte einfach nur aus alten, verstaubten Brettern bestanden. Hier gab es wenigstens Wasser, theoretisch. Mehr aus dem Raum zu machen oder ihn überhaupt als Küche zu nutzen, hatte ich bald aufgegeben. Aber die Männertoilette musste umso dringlicher etwas werden. Ich hatte mir eine große Axt gekauft, gekauft nur deswegen, weil sie zu unhandlich war, um sie zu klauen, stand in einer der Toilettenkabinen und merkte, dass das alles nicht so funktionierte, wie ich mir das vorgestellt hatte. Einfach alles mit der Axt zerhauen. Ich hatte nicht genug Kraft. Konnte mich in der Kabine kaum bewegen. Ich musste das anders machen. Mit Bedacht. Mit Schraubenzieher und Schraubenschlüssel. Das Ganze, soweit es ging, abbauen und erst dann Gewalt walten lassen. Am meisten Sorgen machte mir die Pissrinne. Es war eine, natürlich ebenfalls uralte – und das hieß wohl Dreißigerjahre – Pissrinne, ohne Urinale, man pisste an die gekachelte Wand, und unten gab es eine Art erhöhte Abflussrinne aus Granitstein. Sie konnte ich nicht zerstören. Mit nichts, was ich mir vorstellen konnte. Ich hätte einen Presslufthammer gebraucht. Ich hatte mir schon überlegt, in den ganzen Raum einfach Beton zu kippen. Bis zur Höhe der Pissrinne. Etwa zehn Zentimeter, um einen ebenen Boden zu haben. Aber auch das, merkte ich bald, war zu kompliziert. Ich würde stattdessen die Pissrinne mit dem billigen braunen Teppichboden bekleben, den ich mir für meine Klosterwohnung gekauft hatte. Und über die gekachelte Wand würde ich drübertapezieren. Ich fühlte mich nicht gerade als Teil der Gesellschaft – der ich an dieser Stelle doch wieder gern gewesen wäre. Nicht mal wegen des ganzen Drecks um mich herum. Es ging schon damals eher um das Gefühl ausgestoßen zu sein, nicht mehr dazuzugehören und auch nicht mehr dazugehören zu dürfen, nicht mehr unter dieses Dach kommen zu dürfen, unter dem alle standen. Nur ich nicht. Gleichzeitig ermöglichte mir diese Wohnung, für die ich keine Miete zahlen musste, weiterhin in meinem Traum zu leben, ohne an Geld und andere Notwendigkeiten überhaupt denken zu müssen. Also würde ich jetzt die Kloschüsseln abschrauben. So eklig das auch war. Und in die Abflüsse würde ich Beton kippen. Den Teppichboden drüber. Fertig. Ich hätte ein Schlafzimmer. Und aus dem Iglu im Vorraum würde ich meinen Kleiderschrank machen. Einfach Regale rein. Tür zu. Ebenfalls fertig.
      So stellte ich mir das vor, aber so leicht war es dann doch nicht. Um mich wohlzufühlen, musste ich vor allem schrubben, ich musste im Schlafzimmer und im Vorraum die kleinen Doppelfenster von jahrzehntealtem Dreck befreien, ich musste streichen, tapezieren, wie gesagt. Was ich vor allen Dingen obskur fand, was aber das einzig wirklich Unabänderliche zu sein schien, war der große Wassertank, der über meinem Bett hing. Das heißt, nicht direkt über meinem Bett, sondern noch ein Stück vom Fußende entfernt. Aus ihm heraus führte ein Rohr in die Pissrinne, die es nun nicht mehr gab, nur noch in teppichverkleideter Form. Ich überlegte mir, ob ich auf das Rohrende einen Stöpsel machen sollte, es irgendwie mit einer Kappe zuschrauben könnte, aber letztlich war es mir zu kompliziert, ich konnte mir nicht vorstellen, wozu der Wassertank, bestimmt hundert Liter, jemals gedient haben sollte. Und so strich ich ihn mit derselben roten Metallfarbe, das Rohr genauso, und hoffte, dass das schon irgendwie gehen würde.
      Als ich mich das erste Mal schlafen legte und den alten Drehschalter betätigte, mit dem wohl schon hundert Hausmeister und Putzfrauen das Licht ausgemacht hatten, war mir eher nach Weinen zumute. Hier roch einfach immer noch zu viel nach Toilettenraum, sah nicht aus, funktionierte nicht wie Wohnraum. Durch das Fensterchen hoch über mir in der Wand schien das Mondlicht. Hinter dem Gebäude waren nur ein paar alte, große Bäume. Keine Straßenbeleuchtung. Den Mond auszusperren, daran hatte ich nicht gedacht. Und auch sonst an ein paar Sachen nicht. Die Türen waren zugeschlossen. Unten im Kino die Doppeltür zum Treppenhaus, das zum Balkon führte; die Zwischentür, die vom oberen Treppenabsatz aus noch mal leicht erhöht zu meiner Wohnung und zum Vorführraum führte; und auch meine Wohnungstür war zugeschlossen. Aber abgesehen davon, dass ich nicht wusste, was in einem so alten Gemäuer alles lauerte, welche bösen Menschen nur darauf warteten, einem etwas anzutun, gab es unten im Büro eine Vielzahl von Schlüsseln, Schlüssel am Bund, in Schubläden, überall, sie passten für alles; richtig sicher konnte ich mir also nur sein, wenn ich in meiner Wohnung von innen einen Riegel anbrachte. Ähnlich wie bei der Tür zwischen unserem Studioraum und dem Lagerraum der Gemeinde. Wir hatten keine Lust, dass plötzlich irgendwelche Gemeindearbeiter bei uns im Studio standen oder nachts das Studio ausräumten. Vieles war denkbar. Und durch meinen Einzug war die Situation noch mal bedrohlicher geworden. Vom Pächter des Kinos aus durfte ich hier ganz normal wohnen. Er hieß Stenglein und war ein Kunstfreund, eine bekannte Regensburger Kulturgestalt. Aber von der Gemeinde aus durfte ich das nicht. Vielleicht aus schlechter Erfahrung mit den Gogolins. Das würde mich nicht wundern. Jedenfalls durfte niemand sehen, mich niemand erwischen, wie ich, dass ich hier wohnte. Deshalb der Riegel. Ich würde morgen sofort einen besorgen. Und was ich noch feststellte: Die Axt musste unter meinem Bett sein. Ich hatte eine alte Cordliege zum Aufklappen. Darin lag tagsüber mein Bettzeug. Und nachts musste die Axt darin liegen. Denn so kam niemand, der sich nachts meinem Bett näherte, an sie heran. Vor allem aber dachte ich mir: Selbst wenn draußen jemand das Schloss knackt, braucht er, es war natürlich ein Mann, ein männliches Wesen, immer noch so lang bis in mein Schlafzimmer, dass ich die Axt aus dem Bett holen kann. Ich konnte mir zwar nicht vorstellen, damit zuzuschlagen, aber sie wäre eine Beruhigung.
      Und schließlich merkte ich, dass ich einen Feuerlöscher brauchte. Das Gebäude war groß, der Dachstuhl ging über zwanzig Meter, spannte sich über den ganzen Kinosaal samt Seitenflügel. Wenn hier etwas brannte, war ich erledigt, zumal ich aus dem wegen des Saals stark erhöhten ersten Stock nicht springen konnte. Das Ganze war so hoch wie ein normaler zweiter Stock und ich saß im Seitenflügel, ganz hinten im Eck, in der Falle.
      Am nächsten Tag kaufte ich mir einen Riegel und brachte ihn von innen an der ebenfalls rot gestrichenen Wohnungstür an. Mit dem Feuerlöscher ließ ich mir mehr Zeit. Der Zufall kam mir zu Hilfe. Irgendein Facharzt von mir war in ein neues Ärztehaus im Stadtnorden gezogen. Das Kino war im Stadtsüden. Ich ging im Treppenhaus nach oben zur Praxis. Lauter neue, riesige Feuerlöscher. Nach der Behandlung nahm ich mir einen davon vom Haken, von der Halterung, und fuhr damit im Bus nach Hause. Damals gab es nur drei Radioprogramme, wovon man eigentlich nur eines hören konnte. Ich stellte mir vor, wie eine Durchsage im Radio kam. Gesucht wird ... Der halbe Bus hätte sich gemeldet!
      Zu Hause war ich dann erst mal sicher. Nach den Diebeszügen war es immer schön, wenn der Stress abfiel und nur noch der Erfolg übrig war. Der Feuerlöscher in der Ecke des Schlafzimmers. Die Situation war gleich doppelt entspannend. Peter konnte das alles nicht verstehen. Er hatte eine unglaubliche Wohnung in der Innenstadt. Über zwei Stockwerke, alles gediegenes Holz, beste Qualität, bestens ausgestattet. Ein Traumappartement, bezahlt und eingerichtet von seinen Eltern beziehungsweise seiner Mutter. Sein Vater war einer der bekanntesten CSU-Politiker Regensburgs, wirklich ultra-konservativ, und wahrscheinlich verstrickt in alle möglichen Machenschaften, es gab alle möglichen Skandale. Unsere Väter waren diejenigen, durch die wir etwas gemeinsam hatten. Wir waren für sie vielleicht nicht Nichtsnutze, aber zumindest unverständlich. Wobei Peter für seinen vielleicht noch ein bisschen unverständlicher war. Ich lief wenigstens normal herum. Aber Peter war Hippie gewesen, hatte entsprechende Hippiefreunde. Davon war immer noch viel übrig. Wir hatten uns bei einem Festival kennengelernt, das ich Jahre zuvor in einem großen Jazzclub außerhalb der Stadt organisiert hatte. Jazzclub nur deswegen, weil es kaum andere Möglichkeiten gab. Ich zog, während das Festival lief, mit den Bands durch die Stadt. Es kam mir eigentlich nur darauf an, mit diesen Bands zusammen zu sein. Das Festival selbst interessierte mich wenig. Spätabends kam ich mit einer Frau von einer Berliner Band zurück in den Club. Das Festival war zu Ende, aber es standen noch ein paar Leute auf der Bühne und improvisierten. Jazz. Ich hörte zuerst nicht genauer hin, weil Jazz mich nicht interessierte, es war mir der Berlinerin gegenüber sogar peinlich, dass hier in Regensburg noch so etwas existierte. Aber dann hatten diese Jazzer doch irgendwas, was mich anzog. Sie waren anders. Und da stand Peter. In einem mittelblauen Overall, mit Sandalen, schwer, groß, die roten fettigen Haare in der Stirn und ein fast verschwindendes Saxofon in Händen. Eine Art Kindersaxofon. Und hatte sich dermaßen vergessen, entlockte seinem Saxofon so unglaubliche Töne, dass es mit Jazz, wie ich ihn kannte, nichts mehr zu tun hatte. Das war Krach. Die Strukturlosigkeit war mir zwar unheimlich, ich lehnte sie ab, aber der Krach war gut. Das Bild war gut. Peter völlig verschwitzt. In einem Orkan aus Energie.
      Wir freundeten uns an. Eines unserer ersten Abenteuer zusammen war, als ich mir in einem großen Musikgeschäft in der Nähe von Nürnberg eine ziemlich legendäre Rhythmusmaschine kaufte. Legendär war sie damals noch nicht, aber sie würde es noch werden. Eine Roland 808. Ich hatte sie bestellt, und Peter wunderte sich wahrscheinlich, warum ich eine große Aktentasche mit ins Geschäft nahm. Sie sah sehr offiziell aus. Ich hatte einen silbernen Aufkleber einer Synthesizerfirma draufgeklebt. Sequential Circuits. Ich sah wahrscheinlich aus wie ein Vertreter von Sequential Circuits und damit für den Verkäufer unbewusst vertrauenswürdig. Er musste meine Rhythmusmaschine aus dem Lager holen. In dem Moment klappte ich die Aktentasche auf, nahm ein Gitarrenstimmgerät, eines der ersten digitalen Gitarrenstimmgeräte, ich brauchte überhaupt kein Gitarrenstimmgerät, ich hatte eines zu Hause, das für mich völlig ausreichend war. Nahm es in die Hand. Peter sah mich mit großen Augen an. Das Stimmgerät wanderte in die Aktentasche, Klappe zu, alles erledigt. Ich bezahlte die Rhythmusmaschine und ging mit Peter hinaus. »Bist du wahnsinnig?« Aber natürlich war er auch beeindruckt. Er selbst bekam alle seine Instrumente von seiner Mutter. Wie alles in seinem Leben. Ich war meine eigene Mutter.
      Diese Rhythmusmaschine war dann meine große Freude. ...